Selbst auferlegte Lasten

Gedanken zum 14. Sonntag nach Trinitatis

„Eigentlich“, liebe Gemeinde…, „eigentlich“… „Eigentlich“ will man mit jedermann auskommen. Eigentlich ist man für Frieden und Gerechtigkeit. Eigentlich will man sich um andere kümmern. „Eigentlich“… Aber irgendwie – wenn wir ehrlich sind – bleiben wir immer dahinter zurück. Wir wissen recht gut, was noch zusätzlich ginge, aber … Ja, wir wollen sogar „gut“ sein, aber letztlich gelingt uns das nicht. „Das Gute, das ich will“, schreibt Paulus, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Röm 7, 19). „Eigentlich“ bin ich ein guter Mensch, aber… Nicht schön, ja ärgerlich, das erkennen zu müssen. Eigentlich braucht uns doch keiner zu sagen, was gut und was böse ist. Wir wissen es doch, – und wenn wir uns nur richtig anstrengen, dann werden wir es doch auch schaffen …, eigentlich…

Nein! sagt Paulus. Er unterbricht an dieser Stelle unsere Gedanken. Er geht dazwischen. Hier, wo doch scheinbar die Stärke von uns Menschen liegt. Hier, wo es darum geht, zu planen, zu forschen, seinen Willen einzusetzen, kurz: die Dinge besser zu machen. Hier, wo schlaue Bücher und Methoden ihre Hilfe anbieten, wo die Menschheit scheinbar unaufhaltsam voranschreitet. Genau hier geht der Apostel dazwischen. Aber er fügt den vielen guten Ratschlägen nicht noch einen weiteren hinzu. Er wetteifert nicht mit uns um die klügsten Lebensregeln. Nein, er mischt sich ein mit einem seltsamen Satz.

Dieser Satz heißt: „Wir sind nicht dem Fleisch schuldig, daß wir nach dem Fleisch leben!“. Was meint er damit? Und was meint er mit dem, was er kurz vorher gesagt hatte, nämlich: „Es gibt keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“?

Paulus macht nicht mit. Er stellt unsere Versuche, die Probleme zu lösen, radikal infrage. Wo wir immer noch dem Gedanken nachhängen, dass wir nur die richtigen Ideen haben müssen, um alles zum Guten zu ändern, bringt er etwas ganz Neues. Eine denkwürdige Unterbrechung unserer Gedanken! Was meint er?

Auf die Idee, dass man als Mensch ins Verderben rennen kann, wird gar nicht jeder kommen. Uns wird ja tagein, tagaus eingeredet, es käme auf uns selber an, wie es uns geht. „Jeder ist seines Glückes Schmied“, heißt die Parole, ihr könnt es schaffen! Da muß man – wie Paulus – erst einmal eine nüchterne Bestandsaufnahme gemacht haben. Ich kann mich drehen und wenden, wie ich will, ein mit Mängeln behaftetes Wesen bleibe ich.

Die ganze Richtung stimmt also nicht. All die klugen Lebensregeln ändern nichts am Grundsätzlichen. All das so gut Gemeinte ist nicht das Gute selber! Also: das Gesetz, nach dem ich angetreten bin – „gut sein wollen“ – erfülle ich nicht. Was nun? Ich könnte mir gleich selber das Urteil sprechen, und das hieße: schuldig! Gescheitert an den selbst gesteckten Maßstäben. All die vielen Mahnungen werden mir und meinen Mitmenschen zur Anklage.

Der eine Mensch hat mehr die Neigung, die Schuld immer bei sich zu suchen, er wird so letztlich in die Verzweiflung getrieben. Der andere Mensch gibt eher den Umständen die Schuld – den Eltern, der Politik, oder Gott -, er wird mit seinen Anklagen und seiner Aggressivität immer neue Opfer finden. Das Muster ist das gleiche. Menschen überschätzen ihre Möglichkeiten, meinen, man müsse sich nur so oder so verhalten, dann werde man alles regeln können…

Paulus unterbricht dieses Gedankenspiel. Eine selbst auferlegte Last ist das, so ruft er uns zu! Wenn ihr so weitermacht, so warnt er, dann führt das in den Tod. Ihr benehmt euch wie Sklaven, die sich unentwegt selber neue Lasten aufladen. Und dann sagt er etwas, das sich ein Mensch nicht ausdenken kann, nämlich: „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müßtet!“ Gegenüber all den fremden und eigenen Ansprüchen seid ihr quasi „gestorben“. Sie können euch gar nicht mehr erreichen. Unterbrecht diesen Teufelskreis, in den ihr euch begeben habt! Denkt euch nicht immer neue Dinge aus, die euch retten sollen! Wörtlich: „Wir sind nicht dem Fleisch schuldig, daß wir nach dem Fleisch leben!“

Ihr seid frei! Ihr dürft euch auf eure Taufe berufen! Ihr steht unter Gottes Schutz. Ihr könnt eure sinnlosen Kämpfe beenden. Und dann erinnert Paulus die Christen in Rom und uns daran, daß wir das doch schon selber erfahren haben. Würdet ihr Gott „lieber Vater“ nennen, wenn ihr euch wie Sklaven fühlen müßtet?

Ihr müsstet es doch verstanden haben. Ihr seid Kinder und damit auch Erben Gottes. „Abba“ sagt ihr zu ihm, „lieber Vater“, das drückt doch eine völlig veränderte Gottesbeziehung aus. Ihr begegnet Gott nicht mehr in den Begriffen eines rechtlich und gesellschaftlich verfestigten Systems (Herr / Knecht; oben / unten; Angst / Strafe). Das hat sich doch grundlegend geändert! Der Geist Gottes selber schenkt uns doch eine ganz andere, eine zärtliche und herzliche Beziehung zu Gott: „Abba, lieber Vater!“. Vergesst das nicht: Durch den Geist Gottes ist euch doch die wunderbare Freiheit der Kinder Gottes geschenkt! Brecht die sinnlosen Kämpfe ab! Ihr braucht euch eure Rettung nicht selber zu erstreiten!

Unlogisch eigentlich! Der sogenannte „gesunde Menschenverstand“ beharrt auf dem Recht. Er hält uns unsere Versäumnisse vor. Er plädiert an den „guten Willen“. Mach weiter, sagt er, gib keine Ruhe, du kannst es schaffen … Und er klagt uns an: dass auf dieser Erde kein Frieden ist, dass viele Menschen im Elend leben, daß manch ein Mensch in nächster Nähe seelisch verkümmert, ja, dass wir selber noch viel zu wenig für unser Seelenheil getan haben. Alles wahr…

Und dennoch, Paulus bleibt dabei: ihr seid Gottes Kinder und Erben. Und darum werdet ihr leben; der Geist Gottes bezeugt es. Ein denkwürdiges Plädoyer, das der Apostel da hält! Der gute Wille ist ohnmächtig. Der Geist Gottes aber ist an unser Versagen nicht gebunden. Er steht quer zu allem, was wir uns ausdenken und vornehmen könnten. Er macht zugänglich, was kein Auge gesehen und keinem Menschen ins Herz emporgestiegen ist (1. Korinther 2, 9).

Er, nur er kann mich in Übereinstimmung bringen mit der ganzen Schöpfung. Er kann mich, so Paulus, zu einem „unaussprechlichen Seufzen“ treiben, zu einer Sehnsucht, etwas von der Herrlichkeit Gottes zu spüren und von der Freiheit der Kinder Gottes. Kurz: der Geist führt über unser derzeitiges Bewusstsein von der Welt hinaus. Und er, nur er hilft uns, weiter zu suchen trotz der Erkenntnis, daß wir das Gute nicht vollbringen. Sogar wenn ich leide, kann das ein Hinweis darauf sein, dass Gott mit mir auf dem Wege ist. Wenn ich erkenne, dass ich verloren habe, kann das der Beginn eines veränderten Lebens sein, eines tieferen und echteren. „Dein Wille geschehe …“.

Diesen Geist habt ihr empfangen, so schärft Paulus uns ein. Er wohnt in euch. Vergesst das nicht! In euer begrenztes Leben ragt etwas hinein, das Dauer hat und Ewigkeit, ja, etwas, das allem überhaupt erst Sinn gibt. Etwas radikal anderes ist das als gutgemeinte Ratschläge und Ermahnungen, als Regeln, die das Leben gelingen lassen sollen. Etwas radikal anderes – und gerade darum das Entscheidende. Paulus ringt förmlich darum, dass die Empfänger seines Briefes den Unterschied begreifen. Er erinnert sie an ihre eigene Erfahrung mit dem Geist Gottes. Er ruft ihnen in Erinnerung, welche Befreiung sie dadurch erlebt haben. Und er bekräftigt ihren Willen, sich nie wieder unterjochen zu lassen. Das Wichtigste in eurem Leben ist bereits in Ordnung.

Römer 8, (12-13) 14-17:

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

 

 

 

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