„KRANICH ODER GARNICH!“

Wie das Gymnasium Salzgitter-Lebenstedt I zu seinem Namen kam

Ein Beitrag zur Feier von „80 Jahre Kranich-Gymnasium“

am 25. August 2023

Der Lebenstedter Ortsrat war zuständig damals – 1968 – als es um den Namen der Schule ging. „Gymnasium Salzgitter-Lebenstedt“, so hieß sie damals ganz banal. Und so steht es auf unseren Abiturzeugnissen (1966/1), so steht es sogar noch auf der Festschrift zum 25. Jubiläum, das am 30. März 1968 gefeiert wurde. Warum sollte der Schule eigentlich ein Name gegeben werden? Ganz einfach: Das Gymnasium war zu groß geworden. 1150 Schülerinnen und Schüler in 44 Klassen. Bereits zum 1. Februar 1968 war daher Gymnasium II gegründet worden: 13 Klassen mit 368 Schülerinnen und Schülern waren von Gymnasium I abgetrennt worden. Weil die Gebäude am Fredenberg noch nicht standen, steckte man die Klassen in die Baracken, in denen ich noch meine ersten Oberschuljahre verbracht hatte. Damals schrieb der der neue Direktor Nipp, es komme einem vor, „als befände man sich in einer Außenstelle unseres Städtischen Museums“.

Man wollte also beide Schulen am Namen unterscheiden können. Sowas weckt Ehrgeiz. Das ist doch was, wenn man sagen kann: Den Schulnamen, den habe ich erfunden. Kein Wunder also, dass schließlich 22 Namensvorschläge für beide Schulen auf dem Tisch lagen! Bertold-Brecht-Gymnasium, Geschwister-Scholl-Gymnasium, Novalis-Gymnasium, das sind nur drei Beispiele. Wie sollte man zu einer Entscheidung kommen? Und da passiert etwas sehr Besonderes, das ein Licht wirft auf die damalige Zeit. Wir befinden uns, wie gesagt, im Jahre 1968, Höhepunkt der „rebellischen 60-er-Jahre“. An den Universitäten hatte es seit Jahren eine fortschreitende Radikalisierung gegeben. Der Bildungsnotstand wurde beklagt, die Nazi-Vergangenheit vieler Professoren entlarvt, gegen den Vietnamkrieg demonstriert, die Auslieferung der BILD-Zeitung verhindert – und vieles andere mehr. Es war, so fühlten wir – ich studierte damals in Tübingen-, etwas aufregend Neues in die Welt gekommen, auch neue Formen der Meinungsäußerung: Go-ins, Sit-ins und natürlich „Hearings“ – öffentliche Anhörungen zwecks Meinungsbildung.

Und genau zu diesem Mittel greift die Stadt. Besser gesagt: sie genehmigt diese Form und verzichtet damit auf eine Festlegung „von oben“. Eine sehr zeitkonforme Entscheidung also. Das Hearing wurde auf Dienstag, den 19. März, um 19 Uhr in der Aula festgelegt. Ausdrücklich vermeldet die Salzgitter-Zeitung: „Es handelt sich um eine öffentliche Veranstaltung, die allen Einwohnern zugänglich ist“. Das Wort „Hearing“ selber war so ungewohnt, dass die Zeitung gelegentlich „Haering“ schrieb…

Bevor es zur Redeschlacht kam, spielte sich eine heftige Diskussion in den Tageszeitungen ab – es gab drei davon. Angefacht war der Streit vor allem durch einen Vorschlag, den ein damals prominenter Bürger dem Ortsrat und der Presse unterbreitet hatte: „Antäum“. Es war der Stadtplaner Gerhard Urmoneit, der sich das ausgedacht hatte. Er hatte das moderne Lebenstedt entworfen, „Fischzug“ und „In den Blumentriften“. „Mir fallen die Straßennamen in meinen Träumen ein“ hatte er mir einmal gesagt. „Bärentörn“, „Isetöfte“ und „Elchtränke“ sind Ergebnisse seiner Nächte gewesen. Und nun also „Antäum“ – nach Antäus, einer Gestalt des griechischen Mythos. Ich spare mir Details zu Antäus und Zitate aus den Leserbriefen – die Debatte in den Zeitungen wurde zunehmend polemisch.

Wichtig ist aber, dass sich nun auch Oberstudienrat Walter Junge zu Wort meldete: „Man gestatte mir, in den allmählich schon komisch wirkenden Streit um den endgültigen Namen des ersten Lebenstedter Gymnasiums mit folgender sachlichen Feststellung einzugreifen: Als ich seinerzeit von der Stadt Salzgitter (Oberbürgermeister Rißling) den Auftrag erhielt, die große Aularückwand mit einem Sgrafitto zu schmücken, wurde zur Bedingung gemacht, etwas zu entwerfen, was hinterher der Schule den Namen geben sollte. Mein Vorschlag, den Kranich als Symbol des lebendigen Geistes, der sich über alle Erdenschwere erhebt und alle Hindernisse unverdrossen überwindet, wurde einstimmig gutgeheißen und angenommen. Das ist merkwürdigerweise vergessen worden…“.

Walter Junge war ja nicht irgendwer. Er studierte seit 1924 am Bauhaus und lernte zeitweise bei Paul Klee. Von den Nazis wurde er mit Malverbot belegt – und sein künstlerisches Werk wurde 1943 beim Luftangriff auf Hamburg zerstört. Dennoch wurde er nach dem Krieg einer der profiliertesten deutschen Expressionisten, der in der Fachwelt großes Ansehen genoss. Und: er war bescheiden, kein Mann für die Bühne.

So kam es, wie es wohl kommen musste. Vier Tage vor dem Hearing erreicht mich ein Brief von Walter Junge. Ich war damals im 4. Semester Theologie. Er schreibt: „Lieber Helmut!“, am kommenden Dienstag „findet die Komödie des öffentlichen ʻHearingsʼ statt, in unserer Aula, der ʻBildungsscheune von beklemmender Reizlosigkeit.ʼ Falls ich gezwungen sein sollte, in die Bütt zu steigen – also kurz und gut – ich brauche Deine Hilfe. Könntest Du als Schulsprecher besten Angedenkens von Deinem jetzigen Hauptquartier aus die Schülermassen mobilisieren, daß sie in geschlossener Formation alle mit Schulpullover (Kranich) erscheinen? Das Ganze geht tatsächlich gegen mich und die Kraniche … [usw.] Dein alter Pauker Walter Junge“.

Man hört es heraus: Es ging nicht zuletzt um die Fehde zwischen zwei Salzgitteraner Promis. Beide bildeten einst gemeinsam den Vorstand des von Junge gegründeten Kunstvereins (…seligen Andenkens…) Junge war, wie er mir schrieb, von der „penetranten Bildungsprotzerei“ des Stadtplaners genervt und bezeichnet sich ironisch als „armen Bildungsnotständler“, der mit diesem „Bildungsadel“ einfach nicht mitkomme. Er hatte ja einen wunderbaren Humor voller Selbstironie. Deutlich wird auch, dass Junge mit sicherem Gefühl auf die Schülerschaft setzte. Und damit hatte er absolut Recht! Für mich als ehemaligem Schüler war es eine Selbstverständlichkeit, für den Namen „Kranich“ zu kämpfen! Das Symbol dieses so besonderen Vogels war an der Schule etabliert, die Schulzeitung war seit 1956 nach ihm benannt, in der von Walter Junge stilisierten Form zierte er die Schulpullover. Im Übrigen gilt der Kranich mit seinem fürsorglichen Verhalten von alters her als Vorbild für den Menschen. Die grus vigilans (der wachsame Kranich) fand sogar Verwendung in der spät-mittelalterlichen Kaiserikonographie: Der Kranich war Symbol für den guten und gerechten Herrscher.

Und dann das Hearing! Es wurde zu einer Art Einzug der 68-er-Revolte im beschaulichen Lebenstedt. Die Salzgitter-Presse berichtete: „Sie kamen scharenweise. Mit großen Transparenten, freudig und kampfesmutig gestimmt. Etwa 400 Schüler und 200 Erwachsene. Zum erstenmal seit Bestehen des Lebenstedt-Gymnasiums wurde ein Hearing veranstaltet… Städtische Prominente … und Ehemalige des Gymnasiums … forderten die ʻHearingsteilnehmerʼ zu ʻBuh-Rufenʼ und Massenbeifall heraus.“ Die Schülerinnen und Schüler gaben alles. Die meisten trugen den Schulpullover mit dem Kranich – schon das eine Demonstration. Vor allem aber: Sie hatten großformatige Transparente vorbereitet – auch das ein Novum. Zur Herstellung konnten wir damals die Reklameabteilung des City-Kino nutzen, die Meinhard Funk zur Verfügung gestellt hatte; da wurden sonst eigentlich Kinoplakate gemalt. Auf den Transparenten war zu lesen: „KRANICH ODER GARNICH“, „ANTÄUM – NIEMALS“ oder „LIEBER VOGEL ALS GALGENVOGEL“, was gegen den Unhold Antäus ging. Aber auch gegen Urmoneits sonstiges Wirken in der Stadt wurde polemisiert; so hieß es: „ELCHTRÄNKE, IST DAS ´NE KNEIPE?“ und „ISETÖFTE REICHT UNS“, oder: „HERAKLES erwürgte ANTÄUS zu seiner Zeit – HEUT würgt uns URMONEIT“. Man war also nicht zimperlich…

Was ich aus heutiger Sicht als kurios empfinde ist folgendes: Eines der Transparente trug die Botschaft: „TRADITION VERPFLICHTET“. Das ist ja nun ein Satz, der für einen echten 68-er gar nicht geht. Ich bin froh, dass meine Kommilitonen in Tübingen das nicht gelesen haben…

Der Rest ist schnell erzählt: Der Ortsrat stimmte am 4. April 1968 für den Namen „Kranich-Gymnasium“, eine Entscheidung über den Namen von Gymnasium II – das spätere GaF – wurde ausgesetzt, weil die Schülerschaft noch Diskussionsbedarf hatte. Herr Junge war zufrieden – so, wie wir alle auch.

Übrigens: Der Schulpullover! Beim Hearing wurde er getragen. Damals gab es den Schulpullover noch nicht lange. 1964 gab es einen ersten Versuch, ihn einzuführen. Als damaliger Schulsprecher hatte ich ein einzelnes Probeexemplar herstellen lasse, angeregt durch die amerikanischen Austauschschüler, die solch ein Kleidungsstück mit großer Selbstverständlichkeit trugen. Hellblau war das erste Exemplar, natürlich mit Kranich drauf und der Umschrift „Gymnasium Salzgitter-Lebenstedt“. Aber es wurde nichts mit der Einführung. Ein Schüler schreibt noch Mitte 1965 im Kranich, es handele sich um „eine Nachahmung ausländischer Sitten“… Ende 1965 stimmen die Eltern der Unterstufe dagegen, die Eltern der Mittel- und Oberstufe dafür. Wann genau der Pullover tatsächlich eingeführt wurde, weiß ich nicht, wohl gegen Ende 1966.

Was ich aber genau weiß ist, dass ich diesen ersten Pullover von 1964 noch habe. Und den möchte ich gern meiner Schule zum 80. Jubiläum überreichen!

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