Ein Leben ohne feste Heimat

Predigt zum Sonntag Reminiscere

Viele sind schon einmal umgezogen: mit den Eltern, nach der Schule, vor der Hochzeit. Ich selber habe in Salzgitter, in Bethel, in Jerusalem, in Tübingen, in Göttingen, in Celle, in Groß Elbe, in Braunschweig gelebt. Das ist nicht ungewöhnlich. Manche Lebensläufe älterer Menschen hören sich bewegt an: Geboren in Ostpreußen, nach Flucht und Vertreibung in Westfalen eingeschult, später in Niedersachsen aufgewachsen, wo der Vater in der Zwischenzeit Arbeit gefunden hatte. Die Ausbildung, erst recht der Beruf und die eigene Familie führten in wieder andere Orte, manchmal über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Damit ist es nicht zu Ende. Wo bleibt man im Ruhestand? Es gibt für viele keine heimatliche Stadt, in die man zurückkehren könnte. Also überlegt man – und geht dorthin, wo es schön und sonnig ist, vielleicht nach Mallorca. – So etwas gibt es. Ist gar nicht selten. Rentnerkolonien auf den Inseln …

Ein Leben auf der Wanderschaft. Ein Leben ohne feste Bleibe. Ein Leben ohne Heimat, in die man zurückkehren könnte. Heute gilt das sogar als Qualifikation. Dorthin gehen, wo Arbeit ist. Mobil soll man sein. Flexibel. Das gibt es schon in der Bibel. Ein Leben ohne feste Heimat. Ich spreche von Abraham. Er gilt als Vorbild des Glaubens. Er ist so etwas wie der Vater aller Glaubenden (für Juden, Christen und Moslems). Von ihm ist im Hebräerbrief Kapitel 11 die Rede:

(8.) Abraham glaubte Gott und deshalb hörte er auf seinen Ruf. Er brach auf in das Land, das er als Erbbesitz erhalten sollte. Er zog los ohne zu wissen, wohin er kommen würde.
(9.) Abraham glaubte Gott und deshalb lebte er als ein Fremder in dem Land, das ihm versprochen war. Er wohnte in Zelten – er wie auch seine Nachkommen Isaak und Jakob, die dieselbe Zusage bekommen hatten.
(10.) Denn Abraham wartete auf die Stadt, die auf festen Fundamenten ruht und von Gott selbst entworfen und gebaut ist.

Keine feste Heimat – aber eine Heimat im Herzen. Kein entwurzeltes Leben. Kein Traumbild, das sich jemand zurechtgelegt und in das er sich versponnen hat. Im Gegenteil: Etwas, das Kraft gibt.

Eigentlich war das nicht sein Lebenstraum gewesen. Im 1. Buch Moses wird davon berichtet, wie er aus allen festen Bindungen herausgerufen wird – weg von Haus und Hof, weg von der Verwandtschaft und der Sippe. Herausgerufen von Gott, der ihm eine neues Land in Aussicht stellt; der ihm seine freundschaftliche Begleitung zusagt; der ihm, dem Kinderlosen, eine zahlreiche Nachkommenschaft verspricht: Ich will dich segnen, und du sollst für andere zum Segen werden (12,3).

Abraham lässt sich darauf ein, er hört auf Gott. In der Bibel wird das ganz undramatisch berichtet: Der Ruf ergeht, und Abraham tut, was ihm gesagt wird. Man kann sich gut vorstellen, wie schwer ihm dieser Schritt tatsächlich geworden ist, was sich in seinem Inneren abgespielt hat: Habe ich das richtig gehört oder habe ich mir das nur eingebildet? Kann das Gott wirklich von mir erwarten und nicht nur von mir, auch von meiner Frau, der Sara, und ihren alten Eltern. Und nicht nur Abraham werden solche Gedanken zu schaffen gemacht haben, die ganze Sippe wird heftig auf ihn eingeredet haben und von religiöser Spinnerei, von Realitätsfremdheit und Verantwortungslosigkeit gesprochen haben.

Abraham lässt sich nicht beirren. Er weiß, was er gehört hat. Er geht darauf ein und lässt alles stehen und liegen. – Die Bibel nennt das Glauben. Abraham glaubte Gott, und der rechnete ihm das hoch an (1. Moses 15,6). Abraham glaubte Gott, er hörte auf seinen Ruf. Er vertraute Gott. Er hält ihn für zuverlässig.

Das ganze 11. Kapitel des Hebräerbriefes spricht von diesem Glauben. Viele Menschen werden genannt, die Gott Glauben schenkten und die nicht enttäuscht wurden, obwohl sie keinerlei Sicherheit in Händen hielten. Von Abel ist die Rede, von Noah, von Moses und von vielen anderen. Glaube. Er nimmt das für real, was er nicht sieht und was auch noch nicht eingetreten ist. So heißt es in der Einleitung zu unserem Kapitel: Der Glaube nimmt das als sicher gegeben, was er erhofft. Der Glaube ist wie eine Bürgschaft für Dinge, die bei Gott schon jetzt existieren, die wir aber noch nicht sehen können (11,1). Gott sagt das zu – und der Mensch nimmt ihm das ab, er lässt sich darauf ein. Das ist Glaube.

Ist das nun etwas Besonderes? Soll Abraham als große Ausnahme gezeigt werden? Als besonderer „Glaubensheld“?! Ganz im Gegenteil. Der Verfasser des Hebräerbriefes spricht die Gemeinde an. Jede und jeden Einzelnen. Solch ein Ruf, so will er sagen, ergeht an euch alle. Und tatsächlich: Das Neue Testament ist voll von solchen Berufungen, die Menschen auf einen neuen Weg bringen:

Der Fischer Petrus lässt alles stehen und liegen, als Jesus ihn dazu auffordert.
Der Pharisäer Saulus fällt zu Boden, als hätte ihn der Schlag getroffen.
Der Zöllner Zachäus ist von der Begegnung mit Jesus so beeindruckt, dass es ihm zur Herzensangelegenheit wird, begangenes Unrecht wieder gut zu machen. Der äthiopische Finanzminister liest unterwegs in seinem Reisewagen die Bibel. Als der Apostel Philippus aufsteigt und ihm die Augen für die schwer verständlichen Worte öffnet, lässt er sich auf der Stelle taufen. Das griechische Wort für Kirche, ekklesia, heißt übersetzt: die Herausgerufene. Alle, die den Ruf Jesu gehört haben und ihm gefolgt sind, sind solche Herausgerufene und gehören nun zum wandernden Gottesvolk.

Manchmal ist ausdrücklich von diesem Ruf Jesu die Rede. Demnächst wieder bei der Konfirmation. Da wird nach dem „Ja“ gefragt. Jeder weiß: wir können in dem Alter meistens die Tragweite noch gar nicht übersehen. Erst im Laufe des Lebens wird klarer, was Glauben ist. Und dass es zum Menschsein gehört, von dem zu leben, was wir nicht sehen – was aber dennoch wahr ist. Eines ist sicher: Ein Christ ist man nicht, so wie man Frau oder Mann, Deutscher oder Franzose ist. Sondern Christ wird man und zwar jeder für sich. In irgend einer Form werden wir angeredet – jeder für sich.

Irgendwann berührt uns das Leben. Es trifft uns etwas, beunruhigt uns. Oft ist zunächst gar nicht deutlich, was es ist, das uns zu schaffen macht, und wer vielleicht dahinter steckt. Aber es lässt uns nicht los. Und wenn uns dann nach und nach die Augen aufgehen, dann müssen wir reagieren. Müssen vielleicht Konsequenzen daraus ziehen.

Häufig geht es zunächst eine Frage, die uns schwer zu schaffen macht, die uns schwanken lässt, die uns unsicher macht. Eine Krise. Dann suchen wir nach irgendetwas Zuverlässigem. Etwas, an das wir uns halten können; an dem wir uns orientieren können. Wir suchen nach einem festen Grund unter unseren Füßen. Plötzlich ist dann der Glaube nicht nur eine fromme Tradition. Plötzlich stellt sich die Frage, ob dieser Glaube tragfähig ist. Ob er Rückhalt gibt.

Aus dem 20. Jahrhundert kennen wir viele Beispiele für Situationen, in denen Menschen haben Farbe bekennen müssen und wo sie sich fragten, woher nehme ich die Kraft dafür. Im selben Maße, wie sie Widerstand leisteten, suchten viele Vergewisserung im Glauben. Der Glaube wurde ihnen lebendig. Weil sie in ihm ein Zuhause fanden, konnten sie es aushalten, wenn sie sich der eigenen Gesellschaft entfremdeten. So etwas geschieht nicht nur unter extremen politischen Umständen. In jeder Gesellschaft und in jedem Leben gibt es solche Situationen. Situationen, in denen es darum geht, nicht wegzuhören, nicht wegzusehen.

Eine Herausforderung für uns heute ist zum Beispiel die Frage, wie wir uns gerade Menschen gegenüber verhalten, die wie Abraham unterwegs sind. Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Menschen, die als Flüchtlinge, als Vertriebene, als russlanddeutsche Rücksiedler, als politisches Asyl-, als Brot- und Arbeitsuchende zu uns kommen. Was für Gründe sie auch immer dafür haben, – gute oder weniger gute, wer will das wirklich beurteilen, – in jedem Fall haben auch sie alles stehen und liegen gelassen und sind auf vielen Umwegen und bedroht durch viele Gefahren zu uns nach Westeuropa gekommen. Wir können nicht die halbe Welt zu uns einladen. Aber wir müssen uns immer wieder daran erinnern lassen, dass auch sie Menschen sind. Menschen, die genauso empfinden wie wir und die genauso wie wir das Beste für sich und ihre Kinder suchen.

Und wenn wir uns in so einer Situation wirklich dazu durchgerungen haben, das zu sagen und zu tun, was das Herz uns zu tun gebietet? Dann kann man eben nicht damit rechnen, immer Verständnis oder gar Dank zu finden. Eher stößt man auf Widerstand oder sieht sich missverstanden und verleumdet. Und doch kann es zu einer befreienden Erfahrung werden, befreiend, weil wir nicht den bequemsten Weg gegangen sind.

Der Preis für einen Glauben, der dem Ruf Gottes folgt, ist oft die Heimatlosigkeit. Man entfremdet sich anderen. Von Abraham wird in unserem Predigtabschnitt gesagt, dass er sein Leben lang ein Fremder blieb, einer, der unstet herumzog und in Zelten wohnte. Und an einer anderen Stelle im Hebräerbrief wird gesagt: Wir haben hier auf Erden keine bleibende Stadt. – Nur, liebe Gemeinde, die haben wir ja ohnehin nicht. Wir können uns noch so gut in diesem Leben einrichten und alles erreichen, wovon das Herz träumt, irgendwann endet die irdische Wanderschaft.

Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen wir (13,14). Diese Stadt der Zukunft ist keine Fata Morgana. Es ist die Heimat, die uns Gott verspricht, wenn er uns aus unseren eigenen festen Mauern herausruft; wenn er uns durch die Steppen und Wüsten dieses Lebens irren lässt; wenn er uns all den Risiken aussetzt. Ein bequemes Leben ist niemandem versprochen! Zugesagt aber ist uns ein fürsorgliches Geleit hin zu dem Ort, den die Bibel als Himmlisches Jerusalem beschreibt: Ein fester, ein sicherer, ein guter Ort. Ein Platz bei Gott. Und auf dem Weg dorthin gibt es wunderschöne Stationen.

Und wer sagt uns, ob das so auch stimmt? Niemand, außer Gott. – Und wer weiß, ob das alles auch zutrifft? Keiner, außer dem Glauben. Der Glaube, der sich auf diese Zusage verlässt. Der darf zuversichtlich vorwegnehmen, was erst die Zukunft enthüllen wird.

Das ist eben der Glaube: Eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht (Hebr. 11.1). Amen

Predigt aus dem Jahre 2002

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