Helmut Liersch
Biographische und theologische Schnittstellen
Jedes Mal, wenn ich von Goslar über Wehre nach Braunschweig fahre, kommt er mir in den Sinn. In dem kleinen Vorharz-Dorf wurde er vor 100 Jahren geboren, lebte dort bis 1917: Gerhard Heintze. Mir steht jener äußerlich fast bieder daher kommende Mann vor Augen, der im Umgang auf mich als Teil der 68-Generation etwas altbacken und in seiner Sprache umständlich wirkte: „namentlich“ – dieses spröde Wörtlein ist geradezu Leitfossil seiner Texte. Als Student habe ich die Aufregung in kirchenleitenden Stellen nicht verstanden, als das Foto auftauchte, das ihn mit dem um den Hals gehängten Plakat „2/3 LEBEN IM DUNKEL“ zeigt. So etwas war doch gang und gäbe! Heute weiß ich, wie ungewöhnlich es war und dass es seine biographisch fundierte und vorab in Aufsätzen dargelegte theologische Grundidee war, die ihm Kraft gab, so zu handeln und gegen massive Widerstände Neues in unserer Kirche werden zu lassen. Und dass er zu einer Zeit Themen vertrat, als ich deren Existenz und Relevanz als Schüler und Student noch gar nicht begriffen hatte.
Es ist das Verdienst von Dietrich Kuessner, diese so besondere Gestalt der Braunschweigischen Kirchengeschichte ins kollektive Gedächtnis geführt zu haben. Seinen Beitrag „Zurück ins Fragen“ in der Festschrift zum 75. Geburtstag von Gerhard Heintze sollten alle lesen, die sich für die jüngere Vergangenheit unserer Kirche interessieren. Wenn ich versuche, einige Aspekte meiner Biographie in die des fünften Braunschweigischen Landesbischofs einzuzeichnen, dann ergreift mich neben Dankbarkeit auch ein Gefühl der Wehmut. Zu gern hätte ich – aus heutiger Sicht – mit Gerhard Heintze über seine theologischen Grundpositionen diskutiert. Im Nachhinein sehe ich da erstaunlich viele thematische Parallelen. Vierzehn Tage nach seiner Amtseinführung war die Ostdenkschrift erschienen – nicht nur Max Schmeling trat daraufhin wütend aus der Kirche aus. Ich habe in meinem ersten Betheler Semester im Sommer 1966 in einer Übung bei Wolfgang Schweitzer die Denkschrift gelesen. Nichts gemahnte mich daran, dass gleichzeitig in Wolfenbüttel ein Bischof in dieser Sache unter Druck stand. Als er sich im März 1966 mit den „Braunschweiger Thesen“ konfrontiert sah, hatte ich gerade mein Abitur gemacht und war in evangelikaler Einfalt sicher, dass „es kaum gläubige Pastoren gibt“ – so hatte ich es im Umfeld des Braunschweiger CVJM gelernt. Welch ein Unrecht gegenüber Heintze! Nachträglich wurde mir dieses uninformierte wertende Denken zur wegweisenden Warnung. Ich geriet ab Wintersemester 67 in das, was ich heute „theologisches Paradies“ nennen möchte: das Tübingen der Studentenbewegung. Der „Kampf um die Bibel“ wurde dort ausgefochten von Michel und Käsemann: beide imponierende und überzeugende Persönlichkeiten. Moltmann, Jens, Küng und Ratzinger kündeten von neuen Horizonten, Ernst Bloch raunte Revolutionäres, Gese tanzte in Jesajas Weinberg, Ebeling zog von dannen und Beyerhaus wähnte die Kirche am Abgrund. Ja, auch Hermann Diem, den langjährigen Freund von Karl Barth, durfte ich im Seminar erleben, den alten BKler, dessen Position Heintze in seiner Dissertation referiert. Ich hätte bei ihm rechtzeitig lernen können, dass die lutherische Position ihre Schwäche im Umgang mit Diktaturen hat. Welch ein Hochmut, die Position Karl Barths abzuqualifizieren – wie das im „Braunschweiger Land“ gern geschah – und einen Bischofskandidaten abzuwerten, der sich dessen theologischer Konsequenz verpflichtet weiß! Schließlich waren es nicht die Lutheraner, sondern es war Karl Barth gewesen, der den Nationalsozialismus als eine widergöttliche Bewegung angeprangert hatte. Als er gestorben war, las Moltmann in der nächstfolgenden Vorlesung einen Brief von Barth betreff seiner 1964 erschienenen „Theologie der Hoffnung“ vor: es sei eine etwas „powere“ Theologie, hatte der Basler Guru moniert! Mit dieser ihn selbst scheinbar abwertenden Geste ehrte Moltmann den Verstorbenen als einen ganz Großen.
Heute ist mir bewusst, dass vieles von dem, was mich damals im Studium erfasst und durchgerüttelt hat, gleichzeitig kirchenpolitisch real von meinem Bischof durchgekämpft wurde. Zu gern würde ich von ihm persönlich hören, wie er die Unterstellungen und Beleidigungen weggesteckt hat, als er öffentlich beschimpft wurde, als er sich von „Rechtgläubigen“ verhören ließ und als ihm die Abendmahlsgemeinschaft aufgekündigt wurde. In meinem Exemplar der Festschrift zum 75. Geburtstag liegen noch einige Titelseiten der „Neuen Braunschweiger“ von April bis Juli 1972. „Bischöfe wie ´Hinz und Kunz` – Kirchenaustritte im Hintergrund“ heißt es da im Streit um die Ostverträge, „Bischöfe als Kirchenspalter“, von „mit dem Talar getarnten Super-Marxisten“ ist da die Rede und von „Pfarrer als Genosse Kommunist“. Ich war damals Vikar und heftig empört – heute frage ich mich, warum wir unserem Bischof nicht noch deutlicher zur Seite gesprungen sind: da war doch einer, der genau das repräsentierte, wofür wir in Tübingen auf die Straße gegangen waren. Dass er es damit im Kollegium nicht leicht hatte, war sogar aus dem Blickwinkel eines sich auf das Examen vorbereitenden Studenten sichtbar. Als 1968 unsere Landeskirche ihr 400jähriges Jubiläum feierte, erschien eine Festschrift, die fast vollständig die Zeit nach dem ersten Weltkrieg ausklammerte. Warum Gerhard Heintze, immerhin schon drei Jahre im Amt, darauf keinen Einfluss genommen hat oder nehmen konnte, entzieht sich meiner Kenntnis. Äußerst bemerkenswert ist aber sein Vorwort, das der festlichen Gestimmtheit einen kräftigen Dämpfer versetzt. Nach einem Lob in wohlgesetzten Worten spricht Heintze unerschrocken das Defizit an: „Ein großer Mangel der hiermit vorgelegten Festschrift … besteht darin, daß sie keine eingehende Darstellung der Entwicklung während der letzten fünfzig Jahre, besonders während des Kirchenkampfes, enthält.“ Und damit nicht genug, er spricht Klartext: „Sicher war dies einer der dunkelsten Abschnitte der 400jährigen Geschichte.“ Dass er dann sogar noch das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 zitiert, wird ihm mancher übel genommen haben. Und dennoch traf er damit unser damaliges Lebensgefühl. Es war genau dieses Schweigen, das uns gegen die Autoritäten aufgebracht hatte. Und je mehr wir damals an Verschwiegenem und Verdrängtem entdeckten, ja, entlarvten, desto skeptischer wurden wir denen gegenüber, die uns bis dahin Begleiter oder gar Vorbilder gewesen waren. So war es ein gutes Gefühl, als junger Theologe von einem Landesbischof willkommen geheißen und 1973 ordiniert zu werden, der theologisch, menschlich und kirchenpolitisch überzeugte. Beitrag für FS Gerhard Heintze + zum 100. Geburtstag am 14.11.2012