Am 31. Oktober ist Reformationstag
„Ecclesia semper reformanda“! – Die Kirche muss ständig erneuert werden. Da sind sich viele einig! Und der Apostel Paulus sagt im 1. Thessalonicher: „Prüft aber alles und das Gute behaltet“: auch hier: großer Konsens! Oder?
Erneuern, das Gute behalten… Das sagt sich leicht hin. Jede und jeder stimmt zu: Klar doch, ist wichtig. Nur: wenn man genau hinschaut: Jede und jeder versteht was anderes darunter! „Das Gute“ – das kann alles Mögliche sein. Für den einen ist eine Sahnetorte was Gutes. Für die andere ein 40-tägiges Fasten… Und „erneuern“?! Auch da versteht jeder was anderes drunter: Das Alte weg… – so sehen es die Einen. Zurück zum Ursprung / das Neue weg – so legen es die anderen aus.
Wer entscheidet? Wer bekommt die Deutungshoheit? Ist es derjenige, der das Überleben der Kirche rettet? Wer am umweltbewusstesten daherkommt? Wer am meisten für die Armen und Gestrandeten tut? Das klingt alles prima. Aber ist es das „Gute“, das Paulus meint? Ist es das „Reformieren“, das wir 2017 groß gefeiert haben?
„Der Gerechte wird aus Glauben leben“ (Rö 1,17). Alles hängt am Verständnis dieser Worte! Man kann sie völlig missverstehen: Was ist „Gerechtigkeit Gottes“?! Luther sagt: „Dieser Begriff war mir geradezu verhasst!“ Zitat: „Ich fühlte mich, obwohl ich als Mönch ein untadeliges Leben führte, vor Gott als ein von Gewissensqualen verfolgter Sünder, und da ich nicht darauf vertrauen konnte, Gott durch meine Genugtuung versöhnt zu haben, liebte ich nicht, sondern ich hasste förmlich jene gerechte, die Sünder bestrafende Gottheit.“
Dann versteht er erstmals, was da steht: „Der Gerechte lebt durch seinen Glauben“. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu begreifen, kraft deren der Gerechte aus Gottes Gnade selig wird, nämlich durch den Glauben: dass die Gerechtigkeit Gottes, die durch das Evangelium offenbart werde, in dem passiven Sinne zu verstehen ist, dass Gott in seiner Barmherzigkeit uns durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus Glauben.“ Das ist das „Gute“, das zu behalten ist!
Für Luther hat das gewaltige Auswirkungen. Er wird dadurch frei. Das beschreibt er so: „Nun fühlte ich mich geradezu wie neugeboren und glaubte, durch weit geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein… Je lebhafter ich also bisher das Wort von der „Gerechtigkeit Gottes“ gehasst hatte, umso liebevoller musste ich nun diese gnadenreiche Vorstellung umfassen, und so hat mir jener Ausspruch des Apostels in der Tat die Pforten des Himmels erschlossen.“
So klingt das! Das ist das Wesentliche! Das ist der Inhalt evangelischer, ja, christlicher Predigt. Frei werden von menschlichen Abhängigkeiten! Von Urteilen anderer… Eine menschheitsgeschichtliche Revolution ist das! Von Jesus gelebt, von Paulus auf den Begriff gebracht, von Luther wiederentdeckt! Von uns weitergetragen?!
Alle Drohungen mit himmlischen und irdischen Strafen: nichtig! Alles Gerede: Du musst erst dies tun und das, erst dann bist du bei Gott anerkannt: hinfällig! Frei! Weder geistliche noch weltliche Autoritäten können mich in Sachen des Glaubens bevormunden. Niemand kann mir Bedingungen stellen. Selbst als Untertan und Abhängiger in weltlichen Dingen: Ich bin vor Gott ein freier Mensch! Das einzige, was wir „leisten“ müssen: dieses Geschenk annehmen! Martin Luther hat ihn weggeräumt, all diesen Schutt an Vorbehalten und Einschränkungen, an Zugangssperren zum Reich Gottes… eine absolute Freiheit der Kirche Gottes… Das ist das Entscheidende!
Was ist daraus geworden?! Wenn wir heute mal so rumfragen, was die Kirche ist, wofür sie steht, was ihr zentraler Inhalt ist, was hören wir da? „Nächstenliebe“, sagen viele, „Die 10 Gebote“, „Werte“, ja, immer wieder „Werte…“ Welch eine Falle, die uns Christen da gestellt wird! Klar, wer hört das nicht gern, dass er für „Werte“ steht, „christliche“, „abendländische“, – was soll daran falsch sein? Aber es fällt doch auf: In Luthers Entdeckung kommt sie nicht vor, die Nächstenliebe, kommen sie nicht vor, die 10 Gebote, die „Werte“. Nicht, dass er dagegen wäre. Aber sie taugen nicht als Antwort auf die Frage nach dem Wesentlichen! Ganz im Gegenteil! Luther war ja gerade überzeugt: mit dem Praktizieren von Nächstenliebe, mit dem Halten der 10 Gebote, mit dem Einstehen für „Werte“ kann ich bei Gott nicht punkten!
Warum denn nicht? Aus zwei Gründen: Zum einen sind das alles Dinge, die längst vor Jesus da waren: Die Nächstenliebe ist eine Forderung aus 3. Mose 19,18; die 10 Gebote stehen im 2. und im 5. Buch Mose. Respektable „Werte“ gab und gibt es in allen Kulturen… Vieles davon sind – Gott sei Dank! – Selbstverständlichkeiten, die längst Eingang gefunden haben in die Menschenrechte, in die europäische Grundordnung, in das deutsche Grundgesetz. Glaubt wirklich jemand, um das zu unterstreichen, bauen und unterhalten wir riesige Kirchen…?!
Und zum anderen: gutes und richtiges Verhalten ist für Jesus, für Paulus, für Luther eine Folge des Vertrauens auf Gottes Gerechtigkeit, eine Folge, eine Frucht! „Meine Werke gehen nicht auf Gott hin; sie kommen von Gott her!“, so drückte Karlstadt es aus. Wer uns einreden will, wir als Kirche seien für die Werte zuständig – Politiker tun das gern! -, beraubt uns unseres größten Schatzes: des Evangeliums, der Guten Botschaft: gerecht allein aus Glauben! Punkt! Keine Bedingung! Nochmal: Wohl aber Folgen, Früchte… Bitte verdreht mir nicht die Reihenfolge!
Darum: Reformation – das ist immer ein Schritt zurück! Klingt vielleicht unmosern – ist aber entscheidend. Zurück zur Bibel, zurück zu Christus, zurück zur Gnade, zurück zum Glauben. „Zurück in die Zukunft!“ Man kann das auch technisch ausdrücken: ein „reset“ ist nötig. Der völlig verhedderte Computer, das vollgemüllte smartphone braucht vor allem eins: den Druck auf den reset-Knopf. Alles auf Anfang. Die Grundeinstellung wieder herstellen!
„Die Liebe des unendlichen Gottes kann nicht mit endlichen Mittel erworben werden. Man kann sich Gottes Liebe nicht verdienen!“ Erschreckend, wie oft wir dagegen verstoßen. Sogar von evangelischen Kanzeln herunter hören wir manchmal: Wenn – Dann. Wenn du dies und jenes tust, wird die Welt besser – und das gefällt Gott … Nein! Auf die Kanzel gehört etwas ganz anderes. Man kann sich die Liebe Gottes nicht verdienen, und man braucht es auch gar nicht, weil sie längst durch Jesus Christus „verdient“ ist.
Das ist das Herzstück der Reformation. Damit hat Martin Luther die Befreiung erfahren. „Denn Gott fordert nicht, sondern er schenkt. Denn seine Gnade ist voraussetzungslos“. Ich kann mich darauf verlassen im Leben und im Sterben. Gott entlastet. Er macht frei. Und „gefallen“ können wir ihm allein mit dem Glauben an diese Gnade.
Bei Martin Luther hat das die Seele verändert. Die zwanghaften Ketten sind von ihm abgefallen. Er hat sich wie ein Freigelassener gefühlt. Wer das erlebt, kann sein Leben verändern, nicht weil es gefordert ist, sondern weil es das eigene Anliegen ist. Wer geliebt wird, kann lieben.
Damit haben wir als Kirche einen festen Grund. Den haben wir uns nicht selbst gegeben. Und den wollen wir uns nicht nehmen lassen. Luther konnte diesen Gedanken zuspitzen – und das zum Schluss –. „Ich sitze hier“, schreibt er in einem Brief an einen besorgten Zeitgenossen, „ich sitze hier und trinke mein Wittenbergisch Bier. Das Reich Gottes wächst ganz von alleine!“
Ein Gebet Luthers:
Siehe, Herr, hier ist ein leeres Fass, das bedarf wohl, dass man es fülle, mein Herr, fülle es, ich bin schwach im Glauben, stärke mich, ich bin kalt in der Liebe, wärme mich und mache mich hitzig, dass meine Liebe heraus fließe auf meinen Nächsten; ich habe keinen festen starken Glauben, ich zweifle zu Zeiten und kann dir nicht gänzlich vertrauen. Ach Herr, hilf mir, mehre mir meinen Glauben und Vertrauen, in dir habe ich den Schatz aller meiner Güter, ich bin arm, du bist reich und bist gekommen, dich der Armen zu erbarmen, ich bin ein Sünder, du bist gerecht. Hier bei mir ist der Fluss der Sünde, in dir aber ist die Fülle der Gerechtigkeit; darum bleibe ich bei dir, von welchem ich nehmen kann, nicht dem ich geben darf.