Zum Michaelistag
Hebräer 1, 7.13f und Offenbarung 12, 7-12a
Ich kenne den Namen unseres Briefträgers nicht! Habe nie danach gefragt! Nicht, dass er mir egal wäre! Im Gegenteil: Ich warte manchmal ungeduldig auf ihn und hoffe, dass er bald kommt. Besser gesagt: Ich warte auf das, was er bringt. Briefe, Karten, Päckchen, Geschenke… Manchmal ist das einfach so da: Im Briefkasten, auf der Flurtreppe – ohne, dass ich den Boten gesehen habe. Manchmal begegne ich ihm, am Gartentor, im Hausflur, vor der Wohnungstür: Ich kann gar nicht genau sagen, wie er aussieht. Ich schaue ihm meist nicht ins Gesicht. Ich schaue auf seine Hände: Was er mir bringt – und ich kann es gar nicht abwarten, die Post aufzumachen und die zu lesen. Eines weiß ich aber schon vorher: Die Nachricht stammt nicht vom Postboten. Er überbringt sie nur. Darum ist er für mich wichtig. Aber letztlich: Er vollbringt lediglich eine Dienstleistung für den Absender.
Verstanden? Okay! Das war er, der „Grundkurs Engel“! Wir wissen jetzt, was es mit den Engeln auf sich hat. Ein Engel ist ein Bote. Er handelt ausschließlich im Auftrag Gottes. Und seine Botschaft ist immer etwas, das Gott uns mitteilen will. Und so, wie ich meinen Postboten nicht mit Namen kenne, so kennen wir auch nur wenige Engel mit Namen: Raphael, Gabriel, Michael… Meist aber sind sie namenlos, oder ganze Heerscharen – so wie in der Weihnachtsgeschichte: Alsbald aber war da die Menge der himmlischen Heerscharen. Und was brachten die für eine Botschaft? Klar! „Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren!“ Eindeutige Sache: Das haben sie sich nicht selber ausgedacht, das wissen sie von Gott.
Jetzt der „Aufbaukurs“!
So klar, wie ich das eben dargestellt habe, ist es nicht immer! Das Thema „Engel“ kann sich enorm ausweiten und sogar verselbständigen! Da kann plötzlich die Rede sein von Engeln, die sich gegen Gott wenden: Offenbarung 12. Da kämpft Michael mit seinen Engeln gegen den Drachen und seine Engel! Gefallene Engel, Lucifer, Satan… Schaut man in die Bibel – vor allem aber in die begleitende zeitgenössische und spätere Literatur: Da wimmelt es nur so von Engeln aller Sorten, auch von Geistern und allerlei Zwischenwesen, guten und bösen!
Und ehe man sich versieht, flattert es wüst durcheinander. Da wird der Engel Michael zum „deutschen Michel“. Dabei ist er doch biblisch gesehen der Beschützer des Gottesvolkes! Was ist da schief gegangen? – Oder die Münchner haben einen eigenen Engel Aloisius, der auf dem Oktoberfest säuft. Das Schlimme dabei: Gottes Botschaft kommt bei der Regierung nicht mehr an. Das gilt übrigens nicht nur für Bayern…
Engel, die sich verselbständigen: Das geht gar nicht! So sieht es die Bibel, allen voran der Hebräerbrief und in der Folge die Reformatoren. Der Text ist engel-kritisch! „Zu welchem Engel hat Gott jemals gesagt: Setze dich zu meiner Rechten?“, heißt es da. Gemeint ist: Schaut her: Die Engel stehen um Gottes Thron, ganz anders als der der Sohn – Jesus Christus: der sitzt auf dem Thron zur rechten Seite Gottes. Also – das ist die Logik des Textes – ist der Sohn im Vergleich zu den Engeln einzigartig. Die Engel sind als dienstbare Geister ausgesandt „zum Dienst um derer willen, die das Heil ererben sollen“!
Künstler haben es dargestellt, etwa im Hohen Chor der Neuwerkirche Goslar: Da sitzt Maria mit dem Sohn in Herrscherpose. Der Sieg ist vollbracht. Was man nicht gleich sieht, ist das, was gleichzeitig auf Erden passiert. Unten tobt die Schlacht. Der Erzengel Michael kämpft mit seinen Engeln gegen den Drachen und seine Engel. Michael, ein dienstbarer Geist, der Schutzengel des Gottesvolkes: Offenbarung 12. Hier unten tobt die Schlacht – bei uns, unter uns, in uns. Und Michael will das schützen, was Christus für uns vollbracht hat. Eine starke Vorstellung. Wir spüren: Ja, von solchen Kämpfen habe ich auch etwas in mir. Ängste, Sorgen, Druck auf der Seele – und kein Wunder, dass man irgendwann nur noch auf den starken Michael schaut, also nach unten in diesem Fall, auf die Erde – und Jesus Christus, den eigentlichen Sieger, vergisst. Darum ist das hier in der Kirche anders: Da schauen wir nach oben, auf den bereits errungenen Sieg, und wir sehen und hören, dass er unumkehrbar ist – auch wenn wir das noch nicht ganz glauben können.
Engel, die sich verselbständigen… Ablenkung von Jesus Christus. Im Mittelalter kamen noch die vielen Heiligen dazu, vor allem die Märtyrer, die für ihren Glauben Gestorbenen. Die hatten so viele gute Werke getan, dass man daran Anteil haben konnte – glaubte man. Also betete man zu ihnen, betete sie an, erbat von ihnen Gnade usw., auch von den Engeln.
Da haben die Reformatoren einen klaren Schnitt gemacht. In einem Dokument heißt es: „Obwohl die Engel im Himmel für uns bitten (wie Christus selber auch tut), also auch die Heiligen auf Erden oder vielleicht auch im Himmel, so folgt daraus nicht, dass wir die Engel und Heiligen anrufen, anbeten, ihnen fasten, feiern, Messe halten, opfern, Kirchen, Altar, Gottesdienst stiften und anderweise mehr dienen und sie für Nothelfer halten … denn das ist Abgötterei, und eine solche Ehre gehöret Gott alleine zu …“ und seinem Sohn Jesus Christus (Schmalkaldische Artikel). Ein rigoroses Aufräumen war das! Und als äußeres Zeichen sehen wir das weiße Parament: Weiß ist die liturgische Farbe, die Christus vorbehalten ist. Im Gottesdienst kann es ausschließlich um ihn gehen!
Übrigens hat diese Klarstellung dazu geführt, dass im Laufe der Zeit Engel in evangelischen Predigten überhaupt nicht mehr erwähnt wurden! (Die Engel mit dem Bade ausgeschüttet!) Um alles in der Welt wollte man eines vermeiden: Dass die Christen glauben könnten, es gäbe irgendwelche selbständig handelnden Geistwesen welcher Art auch immer. Der Geist ist strikt an die Bibel gebunden. Und auch im Glaubensbekenntnis kommt ja von Engeln und Heiligen nichts vor. Ja, und das, was man heute in Buchhandlungen an Engel-Literatur bekommt, bestätigt diese Befürchtung: Das hat meist mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun.
Dennoch: Es gibt Engel-Erlebnisse. Das fängt bei dem Wunsch an, eine kleine Engelfigur an der Halskette zu tragen oder einen Bronze-Engel in der Tasche zu tragen. Als in Hildesheim die Michaeliskirche wieder eingeweiht wurde, kam es zutage. Man bat die Menschen, von zu Hause einen Engel / ihren Engel in die Kirche zu bringen. Hunderte kamen zusammen: In dieser evangelischen Kirche. Schön finde ich das. Wir haben keine Bilder von Gott, ja, wir dürfen sie gar nicht haben. Christusfiguren gibt es eigentlich nur als Todessymbole: Kruzifixe. Der Bote, der Erinnerer, der Engel: Das ist für viele die Lösung. Und es gibt sie ja faktisch: Diese Erfahrungen in Grenzsituationen. Dass ich geführt werde, dass ich beschützt werde: „Ein Schutzengel“ sagen wir dann, eine von Vertrauen getragene Deutung. So wie wir es bei Michael gesehen haben. Gott scheint weit weg – oder ist weit weg – und doch werde ich geschützt und behütet: Eine paradoxe Erfahrung. Engel, ja, warum nicht: Engel sind bei mir. Gott begegnet mir, obwohl er so fern ist…: „Gott hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“ (Psalm 91,11)!
Nicht jeder Mensch braucht dieses Deutungsmuster. Manch eine und manch einer hält die Gottesferne so aus, kann auch das Dunkle, das schwer Verstehbare annehmen, im Vertrauen auf Gott. Anderen ist es geschenkt, sich von einem Engel behütet zu wissen. Beides ist Vertrauen auf Gott, ist Glaube. Beides hat Verheißung und möge Trost bringen.
Zum Schluss nochmal der Postbote. Er bringt nichts Eigenes, sondern eine Botschaft des Absenders. Er ist wichtig, ist aber nicht selber der Inhalt. So ist das auch mit den Engeln.