Klar, es ist Vorschrift, ich weiß! Trotzdem: ich fürchte ihn jedes Mal, diesen Augenblick! Ich fahre mit meinem Einkaufswagen auf die Kasse zu, warte auf die Abfertigung der Kundin vor mir – und dann passiert es! Erst das „Guten Tag!“ – Vorschrift schon das. Und dann: dieser Blick nach oben! Kein Stoßgebet, nein: dort oben hängt ein Spiegel, und der ermöglicht einen Blick in meinen Wagen. Variante: die Verkäuferin erhebt sich ein paar Zentimeter aus ihrem Sitz und lässt kritisch ihren Blick in den rollbaren Drahtkäfig fallen: alles aufs Transportband gelegt!? Mich sieht sie nicht – und auch nicht, wie ich leicht erröte.
Wer einkauft, steht heute unter Generalverdacht. „Heben Sie bitte mal die Kiste an!“ Klar, es könnte ja eine flache Packung mit Wurstscheiben drunter liegen. Vorschrift! Und das mir! Sieht sie denn nicht, dass ich ein ehrlicher Mensch bin?! Schmerzhaft wird mir bewusst: Ich bin nicht bei „Tante Emma“. Da kannte man mich noch. Ich bin in einem Großbetrieb. Da ist Kontrolle vorgeschrieben – und nicht nur da. Inzwischen richten sich an allen Ecken Kameras auf uns. Vor Ampeln, aus dem Geldautomaten heraus, auf Plätzen. Je mehr wir fotografiert und gefilmt werden, desto weniger werden wir persönlich wahrgenommen. Eine verdrehte Welt, irgendwie!
Meine Sehnsucht nach schlichtem Vertrauen wächst. Sich in die Augen schauen – und spüren: das geht in Ordnung! Es gibt sie doch: Menschen, die mich nicht erst abschätzen, einscannen und registrieren müssen, um mich „zuzulassen“. Jedenfalls ist Vertrauen können eine Fähigkeit, die uns allen mitgegeben ist. Aber dazu muss man sich in die Augen schauen. Wirklichen Menschen begegne ich nicht in Spiegelbildern und auf Bildschirmen. Das wissen auch viele Verkäuferinnen. Sie lächeln freundlich, nötigenfalls auch ohne Vorschrift. Und ich lächle zurück.