Gewissensentscheidungen

Gewissensentscheidungen –

Eberhard Weidensee und Andreas Gronewalt 

Es waren die marketing-Experten in Wittenberg. Genauer: die Leute in Luthers Druckerei Rhau-Grunenberg. 19. April 1521. Kaum war bekannt geworden: Luther hat vor dem Kaiser nicht widerrufen! – da gingen sie an die Arbeit. Sensation! Mit einer eilig produzierten Flugschrift brachten sie einen vierteiligen Schlusssatz Luthers unter das Volk. Der wird seitdem von Generation zu Generation weitergegeben, elf Wörter: „Ich kann nicht anders / hier stehe ich / Gott helfe mir / Amen“.

Luther hat das so gar nicht gesagt. Er hat gesagt: „Solange mein Gewissen durch die Worte Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es unsicher ist und die Seligkeit bedroht, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen“. Das klang etwas sperrig. Also: Weg mit dem schwierigen Begriff „Gewissen“. Aber der war für Luther entscheidend.

 

Der Mönch Luther beruft sich vor dem Kaiser auf sein gefangenes Gewissen. Und folgerichtig wird er von dem ihn verhörenden Beamten aufgefordert: „Leg das Gewissen ab, Martinus, wie du verpflichtet bist; denn es ist im Irrtum“. Man wusste um das Problem des irrenden Gewissens. Aber Luther hatte auch erkannt, dass es ein geknechtetes und verbogenes Gewissen gibt. Sein Vorwurf gegen die damalige Kirche – „seine“ Kirche! – war es, dass sie durch ein Tyrannisieren der Gewissen den Menschen ihre christliche Freiheit nimmt und sie in die „babylonische Gefangenschaft“ treibt.

 

Auch der Kaiser berief sich damals auf sein Gewissen. Am Tag nach Luthers Verhör hielt er eine Ansprache vor dem Reichstag und äußerte sich zur „Luthersache“. Nicht, dass ihn der Wittenberger Mönch nicht beeindruckt hätte. Aber: In bewegenden Worten betont auch er seine Gewissensbindung. Er beruft sich auf seine Abstammung von den „allerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen Nation, von den katholischen Königen Spaniens, den Erzherzögen Österreichs, den Herzögen von Burgund“, die alle „bis zum Tod treue Söhne der Römischen Kirche gewesen sind“. Aus tiefer geschichtlicher Verantwortung heraus dürfe er es nicht zulassen, dass „ein einzelner Ordensbruder“ die Wahrheit aus über 1000 Jahren Überlieferung infrage stelle. – Zweimal „Gewissen“!

 

(Auch er „kann nicht anders“! Und als Goslar 1531 endgültig auf die evangelische Seite wechselte – Beitritt zum Schmalkaldischen Bund – gelobte der Rat Gehorsam gegenüber eben diesem Kaiser. Einzige und entscheidende Einschränkung war die ausdrückliche Berufung auf das Gewissen. Die Goslarer schrieben: man wolle gehorchen, außer in Dingen, welche „de friheyt des gewettens“ betreffen. Und das hieß: Maßstab sollte das Wort Gottes sein. „Freiheit“ des Gewissens bedeutet: Bindung an das Evangelium.)

 

Gewissen ist also nichts objektiv Darlegbares. Es ist subjektiv gefärbt. Zu seinem Gewissen stehen kann auch heißen: Dafür leiden müssen. Ja, man kann die Reformationsgeschichte darstellen als ein großes Drama der Gewissen: der getriebenen Gewissen, der verletzten, der unterdrückten, der befreiten. Und wir sollten uns hüten vor schnellen Urteilen. Der Blick von heute zurück in jene Zeit ist ungerecht. Wir kennen das Ergebnis. Wir wissen, was aus all dem geworden ist.

 

Die Menschen damals waren mittendrin. Sie wussten nicht, wie es ausgehen würde. Dennoch mussten sie sich entscheiden – gesteuert von ihrem Gewissen. Unsere Goslarer Marktkirchen-Bibliothek erlaubt einen Blick auf zwei Menschen, die sich in all den reformatorischen Ambivalenzen bewegen mussten. Die beiden waren befreundet – und zogen doch unterschiedliche Konsequenzen.

 

Da ist zum einem Eberhard Weidensee. Er wurde 1533 zum Superintendenten hier an der Marktkirche. Er hatte vorher in Halberstadt Kopf und Kragen riskiert, eine Schule mit reformatorischen Inhalten gegründet, lutherisch gepredigt. Er war festgenommen worden, geflohen – und zum Reformator von Magdeburg und Nordschleswig geworden: Eine bemerkenswerte Karriere. Es ist eine Predigt erhalten, die er hier in der Kirche gehalten hat. Er bejubelt darin, dass 100 Jahre nach Jan Hus Martin Luther gekommen ist und fährt dann fort:

 

„So schrecklich das für das kaiserliche Papsttum und alle seine Anhänger ist, so lieblich und süß ist es für die elenden und gemarterten Christen, die der kaiserliche Papst bisher in ihren Gewissen so jämmerlich gemartert und geplagt hat“ (1541 Eyne Alte Prophecey). Das Gewissen!

 

Der andere ist Andreas Gronewalt. Von ihm stammen große Teile unserer Marktkirchen-Bibliothek. Gronewalt und Weidensee kannten sich aus Halberstädter Zeiten, hatten sich damals ausgetauscht über das, was in Wittenberg passierte. Inhaltlich war man nicht weit voneinander entfernt. Gronewalt war mutig: Er hatte Lutherschriften in Hülle und Fülle in seinem Besitz. Das war verboten – schon seit März 1521 durch kaiserliche Anordnung! Dass Luther die Gnade Gottes betonte, fand Gronewalt gut. Ganz gewiss konnte er der Confessio Augustana von 1530 zustimmen. Dort steht: „Das Gewissen kann nicht durch Werke zu Ruhe und Frieden kommen, sondern allein durch den Glauben“ (CA Art. 20). Aber er stieß sich an Luthers Heftigkeit. Er mochte es nicht, wenn das Papsttum verteufelt und die Kirche insgesamt angegriffen wurde. In eines seiner Bücher schreibt er tadelnd: „Vorwar Die christliche Kirch libt Lutter Ja gleich wie ein alter Hund seyn mutter“!

 

Ein offener Anhänger der Protestanten wurde er dennoch nicht. Warum? – so fragen wir – und müssen doch zugeben: Das ist eine moderne Fragestellung. Es gab auf beiden Seiten Menschen, die die Kirche verändern wollten. Es entwickelte sich ein christlicher Pluralismus. Es gab so etwas wie „interkonfessionelle Existenzen“: Menschen, die im alten System lebten – und doch an einer Veränderung der Kirche arbeiteten. Erasmus von Rotterdam war so einer. Und die katholische Kirche heute ist nicht dieselbe wie damals – wenngleich es nach wie vor gravierende Unterschiede gibt.

 

Hat einer oder eine das „bessere“ Gewissen als der oder die andere? Ist die Berufung auf das eigene Gewissen überhaupt geeignet, eine Gesellschaft zu einen?

Fragen, nicht nur damals. Wie steht es heute damit? Bei uns? Bei dir? Bei mir….

(Ausstellung „Hier stehe ich…“, Eröffnung, Mai 2017, 17 Uhr in der Marktkirche)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert