Sonderseite der Goslarschen Zeitung
Gut zu verstehen: Wenn man ein Grab besucht, will man auch sicher sein, dass die Leiche drin liegt. Nichts ist schlimmer als Ungewissheit! Ist er dort wirklich bestattet? Hat man den Verstorbenen gestohlen, gar verbrannt? In Wittenberg gingen solche Gerüchte herum, schon 1547, ein Jahr nach Luthers feierlicher Beisetzung in der Schlosskirche. Und je länger die Sache zurücklag, desto dramatischer wurden die Geschichten. Der Teufel hat den Abtrünnigen geholt! Der feindliche Kaiser hat ihn ausgraben und als Ketzer verbrennen lassen! Seine Freunde haben ihn ganz woanders bestattet, um ihn vor seinen Feinden zu schützen!
Als die Schlosskirche zwischen 1883 und 1892 grundlegend renoviert wurde, hätte sich die Gelegenheit geboten, mal nachzuschauen. Das aber hatte Kaiser Wilhelm I. streng verboten, ebenso wie seine Nachfolger Friedrich III. und Wilhelm II. Die Unsicherheit blieb. Irgendwann 1896 streifte ein Tourist durch die Schlosskirche und beklagte, dass man das über dieser Sache liegende Dunkel nicht aufgeklärt habe. Zufällig war der Küster der Schlosskirche dabei. Er – sein Name ist Römhild – tröstete den Besucher etwa mit folgenden Worten: „Beruhigen Sie sich! Martin Luther liegt hier in seinem Grab! Ich habe vor vier Jahren nach ihm gegraben und ihn gefunden!!“
Das war eine sensationelle Auskunft! Bis dahin hatte niemand von der – ausdrücklich verbotenen – Grabung gewusst! Jetzt sprach sich die Sache herum. Gut acht Monate vor der Wieder-Eröffnung der Schloßkirche am Reformationstag 1892 hatte sich der kaiserliche Baumeister Groth entschlossen, die Unsicherheit über Luthers Grab zu beenden. An einem Sonntagvormittag ging er mit seinem damaligen Maurerpolier Römhild – der wurde später Küster – an die Arbeit. Gottesdienst wurde ja nicht gehalten, da die Kirche noch Baustelle war – und die anderen Arbeiter hatten frei. Den Fund von Luthers Grab traute man sich aber wegen des kaiserlichen Verbotes nicht öffentlich zu machen.
Als die Sache dann doch bekannt wurde, erfuhr auch der für die Schlosskirche zuständige Superintendent und Seminardirektor Emil Quandt davon: Er war der Vorgesetzte von Römhild! Auf Betreiben der preußischen Kirchenleitung wurde ein Wissenschaftler namens Julius Köstlin aus Halle gebeten, über die Graböffnung zu berichten. Den kaiserlichen Baumeister Groth konnte er nicht erreichen, da der gerade mit dem Bau der Erlöserkirche in Jerusalem beschäftigt war. Also fuhr er nach Wittenberg und traf sich auf Vermittlung von Quandt mit Römhild. Von ihm erfuhr er Einzelheiten. Vor allem wurde jetzt eine weitere Sensation bekannt: Man hatte nicht nur gegraben, sondern auch „Beweisstücke“ aus dem Grab entnommen!
In einer ganz unbekannten Zeitschrift berichtete der Hallenser Professor zwar darüber, aber schon damals – und das blieb bis heute so – nahm diesen Bericht kaum jemand zur Kenntnis. Sonst hätte man gewiss nachgefragt, wo denn diese Gegenstände aus Luthers Grab sich befinden… Denn in dem Bericht hieß es: „Auch ein Stückchen wohlerhaltenen Zinns aus dem Grabe bekam ich zu sehen und namentlich eine vom Sarg abgebrochene Handhabe desselben“ – damit ist ein Sarggriff gemeint. Außerdem hätten sich Roststücke im Besitz von Römhild befunden. Erst 1912, also zwanzig Jahre nach der verbotenen Grabung, gab der Küster der Schlosskirche „reumütig“ den Sarggriff an die Sammlung im Wittenberger Lutherhaus ab. Dort wird er bis heute den Besuchern in einer Vitrine präsentiert. Das Zinnstück und die Rostpartikel aber schienen verschollen zu sein.
Kürzlich sind sie aufgetaucht! Der Urenkel des genannten Direktors des Wittenberger Predigerseminars hat sie mir – samt vier Schriftstücken aus dem Jahre 1897 – übergeben. Das ist niemand anders als der langjährige Pfarrer des heute zu Goslar gehörenden Immenrode: Martin Quandt! Im dortigen Pfarrhaus lag der Schatz seit 1966. Quandt lebt heute in Braunschweig und ist in vierter Generation Theologe. Er hatte einst von seiner verwitweten Mutter den umfangreichen Nachlass seines Opas Johannes Quandt erhalten, die ihrerseits die Dinge von ihrer verwitweten Schwiegermutter entgegen genommen hatte. Johannes Quandts Vater Emil Quandt hatte 1907 mit 72 Jahren Wittenberg verlassen und das Zinnstück und die Rostpartikel mit nach Berlin-Lichterfelde gebracht, sorgsam verwahrt in einer Pappschachtel, die über Generationen weitergegeben wurde. Auf diese hatte er geschrieben: „Privateigenthum. Ein Stückchen von dem Zink[!]sarge Dr. Luthers, bei Öffnung des Grabes in der Schloßkirche unter Leitung des Baumeisters Grothe am 14. Februar 1892 herausgenommen vom Maurerpolier Römhild. D. Quandt“. Dadurch blieben der Nachwelt Beweisstücke erhalten, die es nach kaiserlichem Willen eigentlich gar nicht hätte geben dürfen. Quandt starb 1911 und erfuhr demnach nicht mehr, dass Römhild ein Jahr später den Sarggriff abgab.
Seit Wochen recherchiere ich für die wissenschaftliche Dokumentation über die Fundumstände, die ich hier in Kurzform erstmals mitgeteilt habe. Demnächst werde ich in Wittenberg mit der Leitung der dortigen Welterbestätten zusammenkommen und in deren Unterlagen weiterforschen. Vielleicht finde ich das in Griechisch (!) geschriebene Tagebuch von Emil Quandt… Schon bald wird der Fund Goslar wieder verlassen. Ich werde ihn der größten reformationsgeschichtlichen Sammlung der Welt übergeben: dem Lutherhaus Wittenberg. Dort gehört er meines Erachtens hin – und dort freut man sich schon. Das ist auch ganz im Sinne von Martin Quandt.
(Text veröffentlicht in der Goslarschen Zeitung am 3. März 2018)